Bergkönig (King of the Mountain)

d.    Meine Finger bekunden Mühe die Sicherheitsnadeln zu öffnen an diesem Spätsommer Morgen. Ist es die ungewohnte Kälte nach einem heissen Sommer oder doch die Nervosität? Oder bin ich einfach so etwas von aus der Übung?
Es muss jetzt genau 20 Jahre her sein, seit ich das letzte Mal eine Startnummer an mein Trikot heftete. Vielleicht länger, denn irgend einmal lösten die Aufklebe-Nummern die Sicherheitsnadeln ab.
Eigentlich habe ich die Welt des Wettkampfes glücklich hinter mir gelassen. Und bis zu diesem Tag hielt ich jeglicher Versuchung stand.
e.   I have troubles to open the fixing pins on that cold late summer morning. Is it the unfamiliar cold after the hot summer, or nervousness? Or did I just got out of practice?
It must have been 20 years when I pinned my last number on a jersey. Maybe even longer as number stickers replaced fixing pins.
I left racing behind me for good. Till that day I resisted all temptations.

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d.   Wenige Minuten vor dem Start ist die Startnummer dann doch noch ordnungsgemäss an Rad und Trikot angebracht. Zum Glück warf ich zuvor keinen Blick über das Starterfeld. Denn dies hätte meine Nervosität nur noch verstärkt. Denn da steht ein Weltmeister neben dem Anderen. Und mindestens die Hälfte der Träger hat ihr Regenbogen-Trikot mit Schweiss und dem nötigen Rennglück in Ehren erkämpft. Darunter verstreut Tour de France Etappensieger, Stars der Rennbahn, der Strasse und des Radquers.
Vermutlich aber frieren sie, die sie ihre  wie unsereins auch an diesem kalten Morgen in Gstaad.
e.   Just a few minutes before the start my number is fixed correctly on the bike and my jersey. Luckily I haven’t found time to check out the other participations before. It would only had made me more nervous. There are world champions lining up next to Tour de France stage winners. And for once at least half of those rainbow stripes are earned with honor and glory. Stars from other decades. Stars from the road, the track and cross.
But probably they freeze their hands off right now just we all do.

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d.   Dann geht es endlich los. Von den Zuschauern am Strassenrand werden uns Glückwünsche zugerufen. Einige Meter über Pflastersteine, zwei Linkskurven dem Polizeigeleit folgend – bestehend aus Oldtimer-Polizei-Motorrädern – legen wird Gstaad bald hinter uns.
Alles ist da, wie früher; Nervosität, Angespanntheit und die Positionskämpfe. Heute weniger aus Renntaktischen Gründen, sondern eher weil die Strasse schmal und mit Schlaglöchern versehen ist. Kurz vor dem Flughafen führt die Strecke denn auch schon das erste Mal über einen Feldweg.
e.    Then finally we take off. Spectators wish us all the best as we follow the police escort, consisting of 3 vintage police motorbikes. Then we hit a section of cobblestones, turn left twice and leave Gstaad behind us.
Everything is like it used to be; the nervousness, the stress and the fights for positions. This time not due to race tactics more just because the street becomes narrow and peppered with potholes.
And then we hit the first dirt road.
IMG_2627d.   Die erste Abfahrt über Schotter ist überstanden. Überstanden ohne Defekt aber auch ohne Sturz. Denn alle sind wir unterwegs auf alten Stahlrädern. Nix mit super dicken Pneus, Gravel-Bikes oder modernen Crossern, wie sie heute schwer angesagt sind.
Unsere Pneus sind dünn, die Felgen filigran, die Speichen schon etwas verstaubt. Jeder und jede fährt hier heute einen alten Stahlrahmen, mindestens mit Rahmenschaltung. Beschränkte Gangauswahl gehört zum Leidensgenuss, dicke Woll-Trikots aus vergangener Zeit sind Trumpf.
Und in diesen wollenen Trikots wird uns allen langsam aber sicher warm, denn von nun an geht es Berg auf.
e.    I endure the first downhill section on gravel. Overcame it without a mechanic, survived it without a crash. It’s a struggle as we all ride vintage bikes. Steel frames with tiny wheels. No fat tires or bulky gravel bikes.
Everyone rides an old steel bike with their limited gears and heavy weight. And yes, the vintage wool jersey starts to heat up now as we start the first climb.
d.    Das Polizeigeleit wird unterdessen längst in einem Gasthof eingekehrt sein oder am Lauenensee in der Sonne liegen.
Hier oben auf den alten Militärstrassen gibt es weder Verkehr noch Zuschauer. Das Startfeld hat sich mittlerweile gut über die Strecke verteilt. In kleinen Grupettos geht es weiter, immer weiter. Unaufhaltsam! Nur vereinzelte Streckenposten unterbrechen den Rhythmus. Sie bieten Gelegenheit  durchzuatmen und  sich auf der Karte zu orientieren. Ah, wir sind erst hier?
e.    Probably the police escort is long having a sip at a bar or chills at the Lauenensee.  Up here on the old military roads there is no traffic nor spectators. The peloton has split in lots of little grupettos. Further up the road we go, on and on. Sporadic we reach a marshal which gives us the opportunity to take a deep breath and a look on the map. Ah, we’re only here?

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d.    Am Fuss eines kleinen Stausee erreichen wir den ersten Verpflegungsposten. Und nein, hier warten die Soigneure nicht mit Musettes am Strassenrand. Hier wird gehalten. Der Stahlesel kriegt eine wohl verdiente Pause und der Pedaleur Brot, Käse von der Alp und einen kräftig mit Honig gesüssten Tee direkt vom Feuertopf.
e.    At the foot of a little storage lake we reach the first food stop. And no, here the soigneurs are not handing out musettes at the roadside. No, here  you gotta stop and park your bike along the road. There is bread, alp cheese and a warm tea with honey waiting for the pedaleurs.
d.   Da sind sie wieder! Diejenigen die sich halsbrecherisch die Abfahrt runter stürzten reichen denen Tee, welche sich gerade eben das Tal hoch kämpften, als gäbe es weder ein morgen noch ein Streckenprofil. Einige schnappen nach Luft, andere verstauen Armlinge und Beinlinge.
Die Sonne steht bereits hoch über dem Berner Oberland. Alle erfreuen wir uns der wunderschön-friedlichen Aussicht und es dünkt einem, es gäbe keinen besseren Ort um Bergkäse zu geniessen.
e.    There we meet them again;  those who had descent at a breakneck speed and those who climbed up the slopes like there was no tomorrow and more climbing on the route further on.
The sun stands high over the alps and we enjoy the fresh air without armwarmes now. It seems like there couldn’t be a better place to enjoy alp cheese then up here with that stunning view.

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d.   Man könnte hier ewig stehen und in die Sonne blinzeln. Doch wir brechen auf, nicht ohne auch noch die Biddons mit dem süssen Tee zu füllen.
Und dann treffen wir wieder auf Team Molteni. Die Unglücklichen haben einen Defekt zu beklagen, da stehen sie in ihren braunen Kombis am Strassenrand und fluchen. Was der Kanibale wohl dazu sagen würde?
e.    I could stand up here for years blinking towards the sun. But off we go again, but not without a refill of our biddons.
On the short downhill we meet Team Molteni again. The poor guys try to find the hole in tube at the roadside. The others are passing hoping they will be more lucky.

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d.    Am nächsten längeren Aufstieg kommt es mir und meinem Compagno aus Aarau vor, als wären wir bereits weit über die 100km – nein die 150km Marke. Die Melange aus rohem Untergrund, grossen Gängen, schweren Fahrrädern und der Summe an Höhenmetern fordert ihren Zoll.
Beim nächsten Checkpoint werden wir Kilometer 70 erreicht haben.
e.   On the next climb our legs feel like we have been on the road for 100km – no at least 150km. The mix of the rough roads, the heavy bikes and the small gears take their toll. And on the next checkpoint we will reach kilometer 70.

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d.   Der letzte Aufstieg fordert uns allen dann nochmals alles ab. Steil geht es einen Wanderweg hoch. Das kleine Radweg-Schild ziert hier ein Mountainbike. Über Stock und Stein erreichen wir ein atemberaubendes Alpenpanorama. Hier treffen wir auf die wahren Bergkönige. Seit Jahrtausenden stehen sie beisammen, mitten in einer basisdemokratischen Grundsatzdiskussion.
e.   But the biggest challenge awaits us on the last climb. The route isn’t only steep but also very rough and brute. No coincidence as it is a mountainbike-path. Most participants now have to push their old beauties. Sweaty and out of breath we reach an incredible mountain panorama. Here we meet the real kings of the mountains. They stand strong for thousands of years, having a grassroots democracy meeting ever since.

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d.   Am Fusse des Bergsees Lac Retaud gibt sich das Buffet alle Mühe, unsere Strapazen vergessen zu  machen.  Und man fragt sich, ob Blechkuchen je zu vor so lecker schmeckte?
e.     At the little Lac Renaud we find another food-stop. And while I wonder if tray bake cakes have ever tasted better we hit the final downhill as if the roads were our.
d.     Zurück am Start/Zielort in Gstaad gibt es weder Rangliste noch Siegerehrung. Preisgekrönt werden am Bergkönig Gstaad einzig die alten Fahrräder. In diversen Kategorien werden die schönsten unter ihnen prämiert.
Wie sympathisch. Ich werde nächstes Jahr bestimmt wieder kommen. So unbeschreiblich schön die Strecke, so ein Vergnügen sich für einen Tag in der goldenen Ära des Radsports zu wähnen, so viel Spass sich Berge hoch zu kämpfen um oben in stoischer Ruhe die Aussicht und Verpflegung zu geniessen.
e.     Back at the start/arrival area at the center of Gstaad there won’t be a ranking list nor an award ceremony. At the Bergkönig Gstaad only the vintage bikes get judged and crowned.
How simpatico! I’ll sure return to the event next year. The incredible – and challenging – route, the wonderful feeling to consider oneself in the middle of the golden cycling area and those culinary summit on top of alpine summits are all you can ask for!

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Story & Photos by Jan Mühlethaler | © roja-Goodz 2018

 

 

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